Neuzeit

 

Vom 16. Jahrhundert an setzte sich in Neuenrade aufgrund  von Raubbau an der einstigen Bewaldung die Steinbauweise durch. Die Bürgerhäuser wurden bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ausnahmslos als 2-4-schiffige giebelständige Hallenhäuser errichtet. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden in Folge der Raumnot und der Parzellenformen in der Stadt die ersten ärmlichen traufständigen Häuser an der östlichen Stadtmauer „Am Zollhaus“ errichtet. Die letzten noch offenen Bauplätze wurden um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf den Resten der zu dieser Zeit bereits verfallenen Burg „auf’m Platz“  von Bürgern der Stadt genutzt. Der wachsende Bauboom führte erstmals auch zu Abbrüchen. Ab den1750er Jahren bis etwa 1825 entstanden für Kaufleute und wohlhabende Bürger auf einigen alten Haustellen innerhalb der Stadt großzügige Häuser, die von der bisher üblichen Form abwichen. Die Stadt breitete sich nun auch jenseits der Befestigung aus. Wer es sich leisten konnte, baute in der besseren Gegend „Hinter der Stadt“ oder vor dem unteren Stadttor am Eingang zum Mühlendorf. Die einfacheren Bürger nutzten die Baugrundstücke im unteren Mühlendorf, in der Blumenstraße, vor dem oberen Tor und am „Breiten Teich“. Seit dem frühen 19.Jahrhundert trat, vor allem bei sozial niederen Schichten, erneut und vermehrt wieder die Fachwerkbauweise auf, nachdem durch preußische Wiederaufforstungsprogramme wieder fällreife Bäume zur Verfügung standen.

 

Die napoleonische Besatzung und deren Nachwirkung  bescherte der „Neuenrader Bauwut“ jedoch ein jähes Ende. Während sich an der Ersten Strasse (jetzt B 229) die Abriss- und Neubautätigkeit  nur auf ein normales Maß verminderte, kam sie in allen anderen  bekannten Straßenzügen nahezu völlig zum Erliegen. Die Bausubstanz wurde nunmehr durch die bescheideneren Lebensumstände des einfachen Bürgers  fast  wie von selbst konserviert. Während die im 19. Jahrhundert aufkommende  Industrialisierung den Fabrikanten Wohlstand für schöne Villen verschaffte, die rings um die Stadt entstanden, reichte das Geld  des einfachen Arbeiters und Handwerkers gerade dazu, mit bescheidenen Mitteln den Bestand  der alten Häuser zu sichern.

 

Nach dem zweiten Weltkrieg bescherte das Wirtschaftswunder für die historische Bausubstanz jedoch neue Probleme, die gerade in den letzten 40 Jahren die Bedrohung der historischen Bausubstanz extrem verschärft haben. Der Wohlstand weiter Bevölkerungskreise führte zum Eigenheim als einem ausgesprochenen Statussymbol.  Viele Neubaugebiete entstanden am Rande der Stadt. Die Häuser in der Altstadt wurden an zuziehende Gastarbeit vermietet. Weil diese jedoch in ihren Wohnansprüchen zumeist sehr bescheiden waren, ließen viele Neuenrader Hausbesitzer ihre Häuser zusehends verkommen. Ab Mitte der 70er Jahre spitzt sich die Lage für die mittlerweile kulturhistorisch so wertvolle Bausubstanz fast dramatisch zu. Während in anderen Teilen Deutschlands nach Zerbombung und Wiederaufbau die Nostalgiewelle durch die Republik schwappt, leisten in Neuenrade sowie im übrigen Märkischen Bergland die Bagger ganze Arbeit. Zur Schaffung von Parkplätzen fielen auf der Zweiten Straße das Haus des Richters Clemens Lath von 1576, zwischen der Zweiten und Dritten Straße ein Ensemble  von sechs Häusern überwiegend aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, am Zollhaus zwei weitere Häuser und an der Ecke der Dritten Strasse zum Neuen Weg ein Haus aus dem frühen 18. Jahrhundert dem Abbruch anheim. Vor dem oberen Stadttor wurde ein malerisches Häuserensemble aus drei Objekten des 18. Jahrhunderts durch ein das gewachsene Stadtbild stark verfremdendes Ärztehaus mit Ladenlokalen ersetzt.

 

Während dieses „Schlachtfestes“ für den historischen Baubestand wurde 1977 eine Kulturguterfassungsliste erstellt. Aus der Altstadt sind darin etwa 40 Einzelobjekte und 9 Ensembles als potentielle Baudenkmale aufgeführt. Dieser Liste  wurde jedoch zu damaliger Zeit traurigerweise keine Beachtung geschenkt und eine Abarbeitung dieser Liste findet leider erst jetzt (ca. 25 Jahre später) statt. Nach dieser ersten “Versündigungsphase“ verbleibt der Altstadt eine gut 10 Jahre währende Galgenfrist.

 

Gegenwärtige Probleme

 

Ab etwa 1980 zeigt sich ein neues Problem. Viele der oben erwähnten Gastarbeiterfamilien sind inzwischen von Mietern zu Hauseigentümern aufgestiegen und in einigen Straßen so stark vertreten, dass alteingesessene Neuenrader  Innenstadtbürger ihre Häuser aus Angst vor Überfremdung so schnell wie irgend möglich verkaufen. Die Folge sind sinkende Grundstückspreise. Viele der alten Häuser werden entkernt und aus denkmalpflegerischer Sicht verschandelt. Diese Entwicklung war allerdings in gemilderter Form auch schon bei den eingesessenen Vorbesitzern zu beobachten gewesen. Wenn man neuerdings, wie in Neuenrade zunehmend zu hören ist, den ausländischen Mitbürgern eine Mitschuld am Niedergang der Neuenrader Altstadt zumessen will, darf dies nicht als zutreffend gewertet denn letztendlich haben die ursprünglichen Hausbesitzer selbst ihre Wurzeln verkauft und somit diese Situation begünstigt. Um dem Abstieg Einhalt zu gebieten, treten nun Neuenrader Fabrikanten und andere kapitalkräftige Bürger auf, die sich auf die Fahnen schreiben, die Altstadt „wieder zu beleben“. Weil aber auch ihnen das Bewusstsein für den Wert des kulturellen Erbes fehlt, fallen erneut denkmalwerte Häuser dem Abbruch anheim. Nach einem Brandschaden verschwinden im Sommer 1991 zwei Häuser des frühen 18. Jahrhunderts samt Stadtmauerresten „Am Zollhaus“ zugunsten eines neuen Miethauses.

 

Das alte "Steinhaus, auch "Drostenhaus" genannt, mit seiner Südseite im Sommer 1992. Ursprünglich besaß das Haus mittig das traditionelle Deelentor.

 Das "Steinhaus" von der Ostseite. Links der ältere Gebäudeteil, später nach rechts zur Nordseite erweitert.

 

500 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahre 1492- fällt trotz erheblicher Bedenken namhafter Historiker – im August 1992 das so genannte „Steinhaus“ aus dem ehemaligen Besitz der Hansekaufmannsfamilie Düsterloh und nach Aufgabe der Stadtburg Drostensitz der Familie von Neuhoff. So bedauerlich der Abbruch an sich war, legte der Bauherr doch Wert auf Einhaltung der Proportionen des Nachfolgegebäudes. Auf die pflegeintensiven und für Neuenrade untypischen Fachwerkattrappen hätte man allerdings besser verzichtet.

 

Der neu errichtete Südgiebel des "Steinhauses"

 im April 1999.

Anblick des Neubaus von der Ostseite

 

Im Oktober 1993 wird direkt gegenüber das Haus des letzen Neuenrader Leinwebers Mathias Wedag aus dem 18. Jahrhundert, teilweise älter,  für ein Wohn- und Geschäftshaus, diesmal glücklicherweise ohne Fachwerkzutaten, abgebrochen.

 

Das Haus des letzten Neuenrader Leinewebers Mathias Wedag

Nordseite im Oktober 1993

 

Etwa zeitgleich zeichnete sich ab, dass die letzten beiden verbliebenen Häuser „Am Zollhaus“ ebenfalls abbruchgefährdet sind. Um weiteren Kahlschlag auf der Ostseite der Altstadt zu verhindern, startete der Autor gemeinsam mit Prof. Dr. Dieter Stievermann und dem Westfälischen Amt für Denkmalpflege eine Aktion zum Schutz mehrerer Häuser, die letztendlich, trotz großen Widerstandes in Rat und Verwaltung, unter Schutz gestellt wurden.

 

Durch die Lokalpresse aufmerksam geworden, veranstaltete Radio MK im August 1995 eine Live-Sendung mit dem Titel „Neuenrade, wohin gehst Du?“. Dabei wurde erstmals harte Kritik an der laufenden faktischen Flächensanierung laut. Die sich anschließende Diskussion uferte in die beiden überspitzten, aber treffsicheren Fragestellungen aus, ob  die Altstadt als Museum oder als Disneyland hergerichtet werden solle.

Im Oktober 1995 trat ein neuer Investor auf den Plan. Ungeachtet der vorausgegangenen Diskussion und der Angst vieler Bürger  um ihre historische Altstadt trieb er nach dem Abriss zweier Bürgerhäuser des 18. Jahrhunderts in der Zweiten Straße 9 und 11 die Neubaugestaltung auf die Spitze. Ohne jegliches Feingefühl errichtete er ein Wohn- und Geschäftshaus, das im unteren Teil der traditionellen dreischiffigen Hallenhaus Gliederung entspricht, in der Höhenentwicklung aber nur noch als Wohnturm bezeichnet werden kann und dazu noch mit kitschigen Fachwerkattrappen geradezu überladen wurde. Die unangemessene Gebäudehöhe zeigt sich besonders daran, dass das Haus rechts daneben zwergenhaft wirkt, obwohl es bereits eines der höchsten Altstadtgebäude ist.

 

 

 

Das Haus Zweite Straße Nr. 11 (Zustand 1968)

Der Neubau Zweite Straße Nr. 11 im April 1999.

 

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